Abschalten und mal nicht ganz Ohr sein |
Kaum ein Tinnitus ohne Hörminderung – auch wenn sie oft nicht wahrgenommen wird. / Foto: Your Photo Today/B_Boissonnet/BSIP_RF
Den Tinnitus gibt es nicht, zu heterogen ist das Krankheitsbild und zu unterschiedlich sind die möglichen Ursachen. Lärmtraumata und chronische Lärmbelastung gehören zu den häufigsten Urhebern der subjektiv wahrgenommenen Ohrgeräusche. Daneben sind aber auch degenerative, entzündliche, neurologische, zentrale, infektiöse, medikamentöse oder multifaktorielle Auslöser bekannt.
Hesse betont, dass es kaum einen Tinnitus ohne Hörminderung gibt. »In den allermeisten Fällen tritt ein Tinnitus zusammen mit einer Hörminderung auf – was nicht heißt, dass der Betroffene diese auch als solche empfindet. Aber nicht jeder mit einem Hörverlust hat auch ein Ohrgeräusch. Vielen Betroffenen sind ihre Einbußen beim Hören nicht bewusst, da das Hörvermögen im Bewusstsein nach hinten gedrängt wird. Das bestätigt sich ganz oft in der Praxis bei Menschen, die glauben, noch gut hören zu können, aber definitiv ein Hörgerät brauchen.«
Dass eine Hörminderung und der Tinnitus eng miteinander verwebt sind, unterstreicht die Tatsache, dass »in über 90 Prozent der Fälle der Tinnitus in der Frequenz des größten Hörverlusts liegt«. Das heißt also: Ist das Ohrgeräusch ein hoher Piepton (was häufig der Fall ist), kann meist auf eine Hörschwäche im hochfrequenten Bereich geschlossen werden. »Das kann auch nur ein leichter Hochtonschaden sein, den man nur in lauter Umgebung merkt, also nicht beim Fernsehen oder im Gespräch mit einem Gegenüber«, verdeutlicht Hesse.
Die Hörminderung liefert damit ein Stück weit die Erklärung für die Ohrgeräusche. »Bei einer Hörminderung leitet das Ohr zu wenige Töne an das Hörzentrum. Daraufhin versucht der Cortex, die fehlenden Frequenzen zu verstärken. Es regelt also hoch und verstärkt damit Störgeräusche der Nervenzellen, die normalerweise unterdrückt und nicht wahrgenommen werden. Tinnitus ist somit keine eigenständige Krankheit, sondern der Ausdruck einer Fehlregulation«, erklärt der Experte. Diese Zusammenhänge sind laut Hesse auch der Grund, »warum wir mit Hörgeräten so großen Erfolg haben. Diese gleichen den Hörverlust aus und damit muss das Gehirn keine Verstärkungsarbeit leisten.«
Zusätzlicher Stress, Überlastung, aber auch Depressionen und Ängste können die Wahrnehmung des Ohrgeräusches auslösen. Wenn die Ohrgeräusche plötzlich da sind, spielen Gefühle eine entscheidende Rolle. »Tinnitus nimmt zwar im Ohr seinen Anfang, verselbstständigt sich aber durch die Verarbeitung im Hirn und wird mental getriggert.« Je negativer die Emotionen und je intensiver die Ängste, desto mehr verstärken sich Tinnitus-Wahrnehmung und Tinnitus-Leidensdruck, macht Hesse deutlich.
»Der Tinnitus stellt sich meist erst dann ein, wenn sich die Hörfähigkeit wieder etwas verbessert hat. Der Fokus ist in dieser Phase total auf das Ohr gerichtet, die Gedanken kreisen nur noch ums Ohr. Man horcht laufend in sich hinein, was und wie man hört. Und das ist nicht gut.« Hesse berichtet von älteren Untersuchungen zur Bedeutung der Spontanaktivität: Fast alle Menschen, die noch nie Ohrgeräusche hatten und eine Stunde in einer schalldichten Kammer verbrachten, bekamen dadurch Ohrgeräusche. »Das ist die Spontanaktivität. Wenn man wieder abgelenkt ist und die Geräusche nicht weiter fokussiert, verschwinden sie wieder. Die Fokussierung und die Ablenkung gelingen dem einen gut, dem anderen weniger.«
Durchblutungsstörungen sehen Wissenschaftler heute nicht mehr als Hauptursache der Ohrgeräusche. »Die Haarzellen werden nicht durchblutet, sondern mit Endolymphe versorgt. Sie knicken vor allem aufgrund mechanisch-traumatischer Belastung wie Lärm oder entzündlicher, degenerativer Prozesse durch Alterung oder Stress bedingt ein«, erklärt der HNO-Arzt. Deshalb ist im Akutfall die Gabe von Glucocorticoiden sinnvoll. Dabei orientieren sich die HNO-Ärzte an der Therapie des akuten Hörsturzes. Die S1-Leitlinie Hörsturz schlägt eine orale Hochdosis-Cortisol-Gabe (etwa je 250 mg Prednisolon über drei Tage) vor.
Hesse: »Glucocorticoide sind dann indiziert, wenn der Hörsturz oder die Hörverminderung messbar ist – auch wenn der Patient subjektiv gar nichts merkt. Ergibt ein Hörtest Einbußen, deuten wir das als Äquivalent eines Hörsturzes und initiieren die Therapie mit hoch dosiertem Cortisol mit all seinen Nebenwirkungen.« Prinzipiell sei auch die intravenöse Gabe möglich. Diese mit Hydroxyethylstärke (HES) zur Erhöhung des Blutvolumens zu kombinieren, wird wegen der Nebenwirkungen wie heftigem, lang anhaltendem Juckreiz heute nicht mehr empfohlen. Andere Medikamente wie hoch dosierte Ginkgo-biloba-Extrakte sind wissenschaftlich nicht ausreichend belegt und erhalten daher von den Leitlinienautoren ebenfalls keine Empfehlung. Auch für die Sauerstoffüberdruckbehandlung gebe es keine ausreichenden wissenschaftlichen Belege, so Hesse.
Das früher häufig in der Hörsturztherapie eingesetzte Pentoxifyllin (wie Trental®) wird aufgrund mangelnder Datenlage in der Leitlinie nicht mehr berücksichtigt. Dennoch besteht nach wie vor die Zulassung für »durchblutungsbedingte Innenohr-Funktionsstörungen«, wie ein Blick in den Beipackzettel zeigt. Und auch der Ginkgo-biloba-Spezialextrakt EGb 761® (Tebonin®) verfügt über eine Zulassung für die »adjuvante Therapie bei Tinnitus vaskulärer und involutiver Genese«. Hesse hält die genannte Indikation für schwammig. »Eine Durchblutungsstörung und Involution spiegelt nicht unbedingt die Entstehung von Ohrgeräuschen wider.«
Hesse hält es in jedem Fall für sinnvoll, sich nach einem Hörsturz oder Hörgeräuschen Ruhe zu gönnen. »Wir schreiben die Patienten krank, um sie beruflich und familiär zu entlasten. Es ist zweifelsohne wichtig, den Patienten aufgrund der Belastungssituation aus seinem Umfeld zu holen.« Beginnt die Behandlung frühzeitig, also wenige Tage nach Auftreten, kann in den meisten Fällen das Gehör wieder völlig hergestellt werden. Die Hörgeräusche haben eine hohe Tendenz zur Spontanheilung. Hesse betont, dass auch der Apotheker seine betroffenen Kunden zeitig an einen HNO-Arzt verweisen sollte. »Es ist wichtig, dass das in den ersten paar Tagen passiert. Wir sprechen in der Leitlinie deshalb auch von keinem Not-, sondern von einem Eilfall.«
Bringt eine eingeleitete Cortisol-Therapie keine Besserung des Hörvermögens, dann kann leitliniengerecht die Steroidgabe auch direkt in das Mittelohr (»intratympanal«) erfolgen. »Das klingt zwar recht brutal. Aber dazu wird das Trommelfell lokal betäubt und Cortisol direkt in das Mittelohr gespritzt. Das Loch ist nach wenigen Stunden wieder zugewachsen. Der Patient muss dabei eine Zeit lang auf der Seite liegen, damit die Lokalbehandlung einwirken kann. Auf diese Weise diffundiert Cortisol in einer recht hohen Dosis ins Innenohr und wir vermeiden nennenswerte systemische Nebenwirkungen.« Derzeit gilt die intratympanale Applikation eher als Reservetherapie, doch laut Hesse wird sie bei der gerade in Überarbeitung befindlichen Leitlinie eine Aufwertung erfahren.
Wird es irgendwann eine pharmakotherapeutische Therapie gegen die Ohrgeräusche geben? »Im Hinblick darauf, dass man den einen Schalter findet, der den Tinnitus abschaltet, bin ich sehr skeptisch. Forschungsansätze beschäftigen sich zwar mit Stammzellen oder Gentransfer, um untergegangene Haarzellen zu ersetzen. Aber im Grunde haben wir bislang nicht den geringsten Ansatz. Wir können zwar heute schon Haarzellen im Reagenzglas nachwachsen lassen, aber wir bekommen sie nicht ins Ohr. Bei Öffnung des Ohres wäre der Betroffene sofort taub. Außerdem müssten die winzig kleinen, nur elektronenmikroskopisch sichtbaren Haarzellen genau dort implantiert werden, wo sie auch fehlen. Das ginge am ehesten bei einem komplett Tauben«, konstatiert Hesse.
»Bis es so weit ist, besteht die Behandlung des chronischen, also länger als sechs Monate bestehenden Tinnitus in einer Habituationstherapie, bei der Maßnahmen der Hörverarbeitung genutzt werden, um den Tinnitus in den Hintergrund zu drängen beziehungsweise ihn ganz aus der Wahrnehmung zu nehmen. Das heißt, bei einer Therapie muss die Filterfähigkeit des Gehirns wieder trainiert werden. Wir sollten herausfinden, warum diese beim einen sehr gut funktioniert und beim anderen gar nicht. Das hat etwas mit der Psyche, der Emotionalität, der Verarbeitung und Akzentuierung zu tun.«
Aufgrund der psychischen Komponente des Tinnitus liegt es nahe, dass bei Tinnitus-Patienten vermehrt psychische Grunderkrankungen vorliegen. »Die Mehrheit der Betroffenen, die unter ihren Ohrgeräuschen leiden und nach einer Odyssee bei uns in der Klinik landen, haben einen deutlich depressiven oder angstorientierten Hintergrund. Depressionen und Angststörungen sind die beiden Hauptkomorbiditäten. Aber auch hier gilt wieder: Das ist den Patienten nicht unbedingt bewusst«, berichtet der Facharzt aus Erfahrung. Es ist bislang unklar, ob etwa eine Depression ein möglicher Risikofaktor für die Entwicklung eines Tinnitus ist oder die Depression eine Folge der unzureichenden Habituation an die Tinnitus-Symptomatik ist. Bekannt ist dagegen, dass belastende Ohrgeräusche bei prädisponierten Patienten zum Ausbruch einer Depression oder bei einer solchen Grunderkrankung zur Verschlechterung führen können.
Für die Therapie des chronischen Tinnitus bedeutet das: Eine medikamentöse Behandlung für lang andauernde Ohrgeräusche ist abzulehnen, kein Arzneimittel hat ansatzweise den Beleg einer Wirkung gezeigt. Bestehen allerdings (psychosomatische) Begleiterkrankungen wie Depressionen, Schlafstörungen oder Angsterkrankungen, zeigen Psychopharmaka gute Effekte. Darin sind sich die Leitlinienautoren sowohl der deutschen S3-Leitlinie »Chronischer Tinnitus« von 2015 und der multidisziplinären europäischen Leitlinie von 2019 einig. Psychopharmaka bringen Effekte, »weil sie die negative Aufmerksamkeit, die der Tinnitus bekommt, angehen«, erklärt Hesse.
Unter den verschiedenen Habituationstherapien hat die kognitive Verhaltenstherapie den aktuell stärksten Empfehlungsgrad. Dabei handelt es sich um einen multimodalen Ansatz, der unterschiedliche psychologische Techniken kombiniert. Ziel ist die Reduzierung negativer Denk- und Verhaltensweisen. Das Hauptprinzip besteht vor allem in einer Konfrontation und Angstvermeidung. Hierbei soll der Patient lernen, dass seine Ohrgeräusche kein Alarmsignal sind, das eine Aktivierung des Sympathikus zur Folge hat und somit Stress, erhöhte Alarmbereitschaft und Nachlassen kognitiver Kapazitäten auslöst. »Durch die Adaptation an das Tinnitus-Geräusch und zusätzliche Entspannungsmethoden gelingt es relativ gut, den Patienten aus dem Teufelskreis herauszuholen. Doch die Verhaltenstherapie hat den Nachteil, dass die Besserungen nicht unbedingt sehr lange anhalten. Ereignet sich im Leben der Betroffenen etwas Einschneidendes, kann sich der Schweregrad des Tinnitus wieder verschlechtern«, weiß Hesse aus Erfahrung.
Tinnitus-Fachkliniken wie etwa in Bad Arolsen oder an der Berliner Charité kombinierten die kognitive Verhaltens- mit der Retraining-Therapie, wobei das Gehirn auf die ständigen Reize trainiert werden soll. Auch hier sei das Ziel, dass die ständigen Signale im Gehirn keine Aktivierung des limbischen Systems und somit des Sympathikus auslösen. Die klassische Sound-Therapie etwa mit Maskern oder Noisern habe laut Hesse heute nur noch wenig Bedeutung.
»Natürlich ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie die akustische Stimulation, und zwar bei bestehendem Hörverlust mit einem Hörgerät. Nur in Sonderfällen kombinieren wir das Hörgerät mit Rauschtönen oder Noisern. Denn das wäre quasi wie Gas und Bremse gleichzeitig. Einerseits verstärkt das Hörgerät die fehlenden Töne, andererseits behindert man diesen Prozess mit einem Zusatzrauschen. Die Erfahrung zeigt, dass viele Patienten das Störgeräusch nur dann zuschalten, wenn sie für sich allein in Ruhe sind. Aber dann könnten sie auch Musik hören.«